Eine Pariser Göre zieht nach Bürchen

Juliette Barbier war ein Grossstadtmensch. «Eine Pariser Göre». Immer auf Zack, immer etwas busy. Dann kam sie nach Bürchen. Von der französischen Metropole ins beschauliche Bergdorf.

von pomona.media | Perrine Andereggen

Von einem bunten, multikulturellen Stadtteil in den kleinen Weiler Zengerbern. Die schmale Strasse dorthin endet abrupt bei einer Handvoll Häuschen und sonnengegerbten Stadeln in einer Sackgasse. Weiter weg könnte das aufregende Stadtleben nicht sein. Walliser Postkartenidylle. Schön. Und ganz schön ruhig. Das fehlte im geschäftigen Paris. «Zeit, Ruhe und Raum, die Jahreszeiten, die Natur, blauer Himmel.»

 

Ruhe, überraschend still

Juliette Barbier, urban, modern, die von sich selbst sagt, eine Pariserin mit Leib und Seele zu sein, machte Bürchen vor neun Jahren zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt. Tauschte die Hektik der Grossstadt mit der Wald- und Wiesenromantik der Moosalpregion. «Ich hatte weder Angst noch Zweifel», sagt die dreifache Mutter zu ihrem Schritt in eine neue Lebensrealität, weitab.

Der Start sollte für die quirlige Künstlerin, vollends auf Stadt getaktet, alles andere als eine entspannte Landpartie werden. «Vielleicht war ich etwas naiv. Ich dachte, es wird einfach, weil es so schön ist.» Konfrontiert mit dem ungewohnten Klang der Ruhe, überraschend still, mit der Mentalität eines Walliser Bergdorfs, mit einem Leben, dass nur wenig mit der Landlust in den Magazinen zu tun hat, wünschte sich Barbier sogar oft fort von ihrem vermeintlichen Sehnsuchtsort. Zurück nach Paris, wo sie geboren wurde und aufwuchs, studierte, arbeitete, liebte und Kinder bekam. Dorthin, wo sie zu wenig Zeit für zu viele Dinge hatte.

Land- statt Stadtflucht. «Ich fühlte mich damals wirklich fehl am Platz, war plötzlich in vielen Dingen wieder eine Anfängerin. Ich verstand weder Hochdeutsch noch Dialekt, konnte weder Auto- noch Skifahren.» Sie habe in Bürchen nach Paris gesucht. «Das war ein Fehler.» Mit der Einsamkeit zurecht zu kommen, sei schwierig gewesen, sagt die Städterin. «Ich war es gewohnt, ständig mit Mitmenschen zu interagieren. Ich kannte viele Leute, traf mich oft mit Freunden, brauchte den täglichen Austausch.» Spontane Treffen, die vielen Kontakte fehlten ihr. Wollte sie in den Schattenbergen glücklich werden, verstand Barbier peu a peu, musste sie ihr Tempo drosseln, den Rhythmus ändern, Gewohnheiten ablegen. Anders ticken. Das verlangte freilich nach einem besonderen Effort.

 

Neugierig aber distanziert

Dort leben, wo andere Ferien machen. Die Parisienne kannte die Moosalpregion als Stammgast gut. «Bürchen ist das Urlaubsdomizil der Familie meines Mannes, welche hier seit 50 Jahren ein Chalet besitzt.» Irgendwann reichten die wenigen freien Tage, die kurzen Abstecher in die Berge nicht mehr aus. Die Gäste wollten bleiben, Teil der Dorfgemeinschaft werden. «Wir haben in der Familie beschlossen, uns in unserem Ferienort niederzulassen.»

Juliette Barbier war damals 37 Jahre alt, hatte in der französischen Hauptstadt vorab im Theater aber auch im Verlagswesen, bei Ausstellungen und in Ateliers gearbeitet. «Mit Blick auf die 40 fühlte sich dieser Schritt fast schon logisch an», sagt sie. In der Siedlung Zengerbern, welche sich Juliette Barbier und ihr Mann Christian Frank sowie ihre drei Kinder Leonard (18), Abel (13) und Anette (3) mit einer weiteren Familie teilt, bauten sie ein Haus. «Mit einer grossartigen Aussicht über das Dorf, den Wald, die Berge, über offene Felder.» Peripherie und Panorama statt städtische Dichte und Häuserschluchten.

Barbier fühlte sich im 700-Seelendorf immer willkommen. Man sei neugierig auf die Zugezogenen aus Paris gewesen. Die Bürchner hätten sich zwar herzlich, zunächst vielleicht etwas distanziert gezeigt. «Im Laufe der Zeit fühlte ich mich von der Bevölkerung akzeptiert, dann adoptiert und heute voll unterstützt. Jede und jeder ist bereit mir zu helfen, wenn ich darum bitte». Hilfe beim Kinderhüten, Hilfe bei der Umsetzung von künstlerischen Projekten. «Manchmal finde ich Salat, Gemüse oder leckere Marmeladengläser vor der Tür. Wir werden sehr verwöhnt.» Inzwischen, sagt die 46-Jährige, hätten sich auch die Schäfer, zuunterst im Weiler, an ihre «komischen Anliegen» gewöhnt.

Sie entkräftet damit das Vorurteil des misstrauischen, eigenbrötlerischen Berglers, der nicht offen gegenüber Fremden ist. Au contraire. «Am Tag nach den Anschlägen im November 2015 in Paris, die mich in meiner Seele getroffen haben, erhielt ich die Nachricht, dass ich nach draussen schauen solle, weil die Dorfbewohner Kerzen in die Fenster gestellt hätten. Für Paris, für mich. Es war unglaublich, grossartig und ein starkes Zeichen. Überall brannten Kerzen. Wenn ich daran denke, muss ich weinen.»

 

Nicht gestrandet, vielmehr angekommen

Erst allmählich fand Barbier in Bürchen ihre Ruhe-Insel. Nicht gestrandet, vielmehr angekommen. «Bürchen gibt mir die Zeit, mich zu konzentrieren, zu arbeiten, in die Tiefe zu gehen, meine Projekte abzuschliessen», gerät sie mit ihrem charmanten französischen Akzent ins Schwärmen. «Bürchen gibt mir eine grossartige Kulisse, die sehr inspirierend ist.

Bürchen gibt mir mit seinen ausgeprägten Jahreszeiten einen festen Rhythmus, durchorganisierte Tage und Monate, die sich immer wiederholen. Ich mache hier zwar weniger, ich mache es aber besser.» Sie sei reifer geworden und nun näher bei sich selbst. Weniger abgelenkt. «Das Dorf ist meine Inspirationsquelle und zu meinem Ausdrucksort geworden. Bürchen ist Thema, Motiv und Theater.» Hier oben wolle sie bleiben, um eines Tages eine Bürchnerin mit Leib und Seele zu werden. Voilà…

«La Dragée Design» – ein Kartonage-Atelier

Die Digitalisierung und eine moderne Infrastruktur, die ein orstsunabhängiges Arbeiten ermöglichen, spielten beim Entscheid, das Grossstadtleben hinter sich zu lassen, eine wichtige Rolle. Dank des Internets und der Mehrsprachigkeit ihres Mannes Christian Frank, konnte Juliette Barbier ihre berufliche Tätigkeit zusammen mit ihm auch in Bürchen weiterführen. Gemeinsam führen sie das Kartonage-Atelier «La Dragée Design». Sie erfinden und stellen Objekte aus Papier für verschiedene Anlässe her. Hauptsächlich werden die Papierartikel über die eigene Homepage nach Frankreich und Italien sowie schweizweit verkauft.

Mit den Theaterprojekten «As Cabaret» und «Reibungen» sowie mit dem Theaterspaziergang «Angsthase» – alle Inszenierungen aus der Feder von Juliette Barbier – hat die Pariserin das kulturelle Leben in Bürchen in Zusammenarbeit mit einheimischen Laienschauspielern schon mehrmals bereichert. Weitere Kleinkunstprojekte sollen folgen, sobald es die Corona-Pandemie zulässt. Derzeit male und fotografiere sie allein in ihrem Atelier und verfolge damit zwei Projekte. Zum einen schaffe sie sich mit einer fiktiven Bürchner Urahnin eine eigene Vergangenheit im Dorf, zum anderen arbeite sie an einer Farbenpalette der hiesigen Landschaft in den Bergen.

Weitere Infos zu La Dragée Design findest du hier

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